Erleben wir gerade das Ende unseres Wohlfahrtsstaates?

Bild: NoyanYalcin, Shutterstock.com

Das Schlagwort der sozialpolitischen Zeitenwende macht die Runde. Das lässt für unser Land und die Gesellschaft nichts Gutes erwarten. Ein Gastbeitrag.

Nur zehn Wochen, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner Regierungserklärung zum russischen Angriff auf die Ukraine von einer "Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents" gesprochen hatte, forderte Reiner Schlegel, damals Präsident des Bundessozialgerichts, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine "Zeitenwende für den Sozialstaat"; So lautete der Titel seines Gastbeitrages.

Darin sorgte sich einer der ranghöchsten Juristen unseres Landes weniger um die Würde alter Menschen, deren Lebensstandard bei einer von ihm empfohlenen Anhebung des Renteneintrittsalters auf dem Spiel steht.

Er macht sich vielmehr Gedanken um die "Wettbewerbsfähigkeit unserer stark global ausgerichteten Wirtschaft", die auf dem Spiel stehe, wenn stattdessen der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung spürbar erhöht werde.

"Strukturelle Reformen" und "Leistungskürzungen"

Schlegel zufolge müssen im Sozial- und Gesundheitsbereich "strukturelle Reformen in Angriff genommen" oder Leistungskürzungen vorgenommen werden, von ihm als Anpassung des Leistungsniveaus verharmlost. Vor allem dürften "keine Leistungsausweitungen" erfolgen, bei denen absehbar sei, dass sie den jetzigen Beitragszahler(inne)n nicht mehr zugutekommen.

"Putins Überfall auf die Ukraine und die Folgen seines Krieges haben in Deutschland in vielen Feldern zu einem Umdenken, zumindest aber einem Nachdenken über vermeintliche Sicherheiten geführt, energiepolitisch wie sicherheitspolitisch. Auch sozialpolitisch ist eine Aufgabenkritik unerlässlich. Es ist an der Zeit, danach zu fragen, ob die Sozialsysteme auch für die Zukunft ausreichend gerüstet sind."

Konsolidierung des Haushalts auf Rücken von Benachteiligten

Zwar hat Olaf Scholz auf dem SPD-Bundesparteitag am 9. Dezember 2023 in Berlin unter lautem Beifall der Delegierten versprochen, es werde "keinen Abbau des Sozialstaats" geben, der "eine der größten Errungenschaften" Deutschlands sei.

Die sich über einen Zeitraum von anderthalb Jahren erstreckenden Koalitionsstreitigkeiten um die Kindergrundsicherung können jedoch als Vorboten einer sozialpolitischen Zeitenwende gelten, ging es dabei doch nicht zuletzt um die Kosten des Projekts zur Bekämpfung der Familienarmut.

Eine große Lücke klaffte zwischen den zwölf Milliarden Euro, die Bundesfamilienministerin Lisa Paus forderte, ohne jedoch eine konkrete Berechnungsgrundlage vorweisen zu können, und den zwei bis drei Milliarden Euro als Kostenrahmen, die Bundesfinanzminister Christian Lindner zugestehen wollte.

Verteilungskämpfe spitzen sich zu

Während der Haushaltsberatungen für das Jahr 2024 spitzten sich die Verteilungskämpfe zwischen den einzelnen Ressorts zu. Da sich die FDP und ihr Vorsitzender sowohl weigerten, die Schuldenbremse noch einmal auszusetzen und Steuern für besonders Wohlhabende zu erhöhen, wurde auf Vorschlag des Bundesfinanzministers beschlossen, Kürzungen in mehreren Einzeletats vorzunehmen.

Trotz des "Sondervermögens Bundeswehr", das Zusatzausgaben in Höhe von 100 Milliarden Euro ermöglicht, blieb der Rüstungshaushalt davon ausgenommen. Besonders einschneidend waren die geplanten Abstriche im Bereich der Bildung sowie im Bereich von Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Die Hintergründe der Haushaltskrise

Laut einem von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwirkten Bundesverfassungsgerichtsurteil war die Übertragung zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie vorgesehener, aber in nicht unmittelbar benötigter Kreditermächtigungen auf den Energie- und Klimafonds, der später in Klima- und Transformationsfonds umbenannt wurde, nichtig. Dadurch geriet die Ampelkoalition in arge Finanznöte und jede nicht gesetzlich festgelegte Ausgabe des Bundes unter massiven Druck.

Aufgrund eines am 15. Dezember 2023 gefundenen Haushaltskompromisses verringerte der Bund seinen Zuschuss in die Rentenkasse, beschnitt den Wohngeldetat und fuhr die soziale Abfederung der Klimawende zurück. Hatte die Ampelkoalition noch ein knappes Jahr vorher Hartz IV "überwinden" wollen, so vollzog sie jetzt eine Rolle rückwärts.

Die "nachhaltige Arbeitsverweigerung"

Bürgergeldbezieher(inne)n, die sich nach Meinung des Jobcenters einer "nachhaltigen Arbeitsverweigerung" schuldig machen, sich also der Kooperation mit diesem verweigern oder entziehen, droht wieder eine Totalsanktion, bei der man ihnen die Geldleistung für zwei Monate (früher: drei Monate) streicht und zwar weiterhin Miet- und Heizkosten zahlt, aber keine Sachleistungen wie Lebensmittelgutscheine mehr vergibt.

Die in "Leistungsentzug" umbenannte Strafmaßnahme trifft hauptsächlich Personen mit psychischen oder Suchterkrankungen, fehlenden oder mangelhaften Sprachkenntnissen und Leseschwächen.

Der kurzlebige Bürgergeldbonus

Den erst zum 1. Juli 2023 eingeführten Bürgergeldbonus, der die Anreize zum Abschluss einer Berufsausbildung für Geringqualifizierte vermehren sollte, indem Teilnehmer/innen an einer mindestens achtwöchigen, jedoch nicht auf einen Berufsabschluss gerichteten beruflichen Weiterbildung wie einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, einem Bewerbungstraining oder einem Sprachkurs anrechnungsfrei und zusätzlich zum Regelbedarf 75 Euro monatlich erhielten, schafften SPD, Bündnisgrüne und FDP kurzerhand wieder ab.

Noch härter traf es Geflüchtete, deren monatliche Leistungen ohnehin über 100 Euro geringer als das Bürgergeld ausfielen. Sie bleiben künftig doppelt so lange wie bisher – drei Jahre statt 18 Monate lang – im Asylbewerberleistungsbezug und ohne Zugang zu den Analogleistungen des Bürgergeldes oder der Sozialhilfe. Barauszahlungen werden eingeschränkt, Bezahlkarten eingeführt und fast nur noch Sachleistungen gewährt.

Das Ringen um die Kindergrundsicherung

Den armen Familien muss es wie Hohn erscheinen, dass um Mittel für die Kindergrundsicherung monatelang gerungen und am Ende lediglich Mehrkosten von 2,4 Milliarden Euro genehmigt wurden, während für Militärhilfe an die Ukraine trotz der Sparzwänge nicht weniger als 8 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Erst am 2. Februar 2024 wurde das Haushaltsgesetz für dieses Jahr vom Bundestag verabschiedet, und während der Etatberatungen für 2025 deuten sich ähnliche Konflikte an.

Sozialstaat am Ende?

Bundesfinanzminister Christian Lindner verknüpfte am 22. Februar 2024 in der TV-Talkshow "Maybrit Illner" das Thema "Zuwanderung" mit dem Thema "Wohlfahrtsstaat", wie es Politiker und Parlamentarier der AfD ganz gezielt tun. Er sprach sich dafür aus, die "illegale Migration in unseren Sozialstaat" endgültig zu unterbinden, und forderte, die Sozialausgaben drei Jahre lang einzufrieren.

Was von Lindner im ZDF als mehrjähriges Moratorium für die Sozialausgaben des Bundes verharmlost wurde, liefe in Wahrheit auf eine weitere Demontage des Wohlfahrtsstaates hinaus, die für Armutsbetroffene und Armutsbedrohte existenzgefährdend sein kann.

Am Ende stehen reale Kürzungen

Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die ihrer Bewältigung dienenden Staatsausgaben aber nicht mehr steigen dürfen, handelt es sich um erhebliche reale Kürzungen in diesem Bereich. Dies gilt erst recht unter der Voraussetzung, dass sich die inflationären Tendenzen der vergangenen Jahre fortsetzen oder in Zukunft wiederholen.

Am 23. Mai wird das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Heute ist sein Sozialstaatsgebot so aktuell, vielleicht aber auch so bedroht wie nie. Umso nötiger erscheint es, immer wieder auf die Bedeutung des Artikels 20 Absatz 1 und des Artikels 28 Absatz 1 GG hinzuweisen, wo die Bundesrepublik als "demokratischer und sozialer Rechtsstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG) bzw. als "sozialer Bundesstaat" (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) bezeichnet wird.

Sozialstaatlichkeit ist eine eigenständige Staatszielbestimmung neben Republik, Demokratie, Bundesstaat und Rechtsstaat im Grundgesetz darstellt, mit der eine Schutz- und eine gesellschaftspolitische Gestaltungsfunktion verbunden ist.

Soziale Grundrechte auf Prüfstand

Die sozialen Grundrechte stehen heute auf dem Prüfstand, was Kampagnen der Boulevardpresse gegen das Bürgergeld unterstreichen, dessen Regelsätze angeblich so hoch sind, dass sich Erwerbsarbeit zumindest für Geringqualifizierte kaum noch lohnt. CDU-Politiker riefen jüngst nach einer Arbeitspflicht für Bürgergeld-Bezieher/innen, obwohl unsere Verfassung diese nur "im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstpflicht" (Art. 12 Abs. 2 GG) erlaubt und Zwangsarbeit außer "bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung" (Art. 12 Abs. 3) für unzulässig erklärt.

SPD, Bündnisgrüne und FDP haben im Rahmen der Regierungsbildung den Anspruch erhoben, eine "Fortschrittskoalition" zu sein. Sozial- und verteilungspolitisch droht Deutschland allerdings ein weiterer Rückschritt. Bei der Union als größter Oppositionsfraktion wäre der Sozialstaat keineswegs in besseren Händen: CDU und CSU wollen das Bürgergeld nach einer möglichen Regierungsübernahme wieder abschaffen und die Kindergrundsicherung mittels ihrer Bundesratsmehrheit verhindern oder inhaltlich weiter verwässern.

Besonders fragwürdig war die Forderung des CDU-Bundestagsabgeordneten Jens Spahn, notfalls die Verfassung zu ändern, um schärfere Sanktionen beim Bürgergeld durchzusetzen. Der frühere Gesundheitsminister scheint das Grundgesetz schlicht nicht zu kennen, denn das Bundesverfassungsgericht hat sich bei seinem Hartz-IV-Sanktionsurteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16) auf Artikel 1 Absatz 1 zur Würde des Menschen und das Sozialstaatsgebot von Artikel 20 Absatz 1 gestützt – zwei Verfassungsnormen, die wegen der sog. Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 Satz 3 GG) selbst bei einer 100-prozentigen CDU/CSU-Mehrheit im Parlament nicht verändert werden dürften. Wenn es um die Würde des Menschen, den Sozialstaat und die Demokratie geht, hat der Verfassungsgesetzgeber solch inhumanen Ideen zum Glück einen Riegel vorgeschoben.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch "Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung" veröffentlicht. Sein Buch "Umverteilung des Reichtums" ist dieser Woche erschienen.